Sie war noch vor dem Sonnenaufgang aufgestanden und in die Küche gegangen um den Brotteig vorzubereiten, den sie anschließend zum Bäcker gebracht hätte. (Richtig gelesen: Früher konnte sich nicht jeder den Luxus eines Ofens leisten und so bereiteten die Hausfrauen den Brotteig selbst zu Hause vor um ihn anschließend beim Bäcker „forner“ zu backen.)
Sie suchte vergeblich nach dem Feuerstein, konnte ihn aber einfach nicht finden, als plötzlich ein schwacher Lichtstrahl durch die Fensterläden in die Küche fiel. (Wer konnte das bloß so früh am Morgen sein?)
Die Prozession der Toten
Die Hausfrau öffnete, neugierig wie sie war, die Fensterläden und sah eine seltsame Prozession vor sich: Dutzende von Menschen, Männer und Frauen, mit eingefallenen Gesichtern liefen still die Straße entlang. Sie hatten ihre Hände gen Himmel gestreckt. Die Finger waren gespreizt und ein seltsames Licht ging von den Fingerspitzen aus.
Es waren die Toten, die in der Nacht vom 1. auf den 2. November frei durch die Straßen wanderten. Die Hausfrau dachte einfach nicht daran, oder war einfach naiv, und hob dem letzten Toten dieser stillen Prozession einfach ihre Lampe vor das Gesicht mit der Bitte er möge sie doch entzünden.
Der Tote tat wie ihm geheißen, doch als die Hausfrau die Lampe genauer ansah, bemerkte sie, dass der Arm des Toten daran hängen geblieben war. Endlich leuchtete ihr ein, dass dies die alljährliche Prozession der Verstorbenen gewesen war.
Sie nahm nun den Brotteig, brachte ihn zum Bäcker, und begab sich anschließend zum Priester um einen Rat einzuholen: „Das hättest du nicht tun sollen! Die Prozession der Toten darf nicht gestört werden. Nun musst du 12 Monate auf die nächste Prozession warten um den Arm zurück zu geben.“ Doch was sollte sie in der Zwischenzeit mit dem Arm anfangen? („Bewahre ihn in Gries auf!“)
Ein Jahr später …
Als nun ein Jahr vergangen war tat die Frau wie ihr vom Priester geheißen: Sie zog den Arm des Toten aus dem Gries heraus und hielt eine schwarze Katze in ihrem Schoß während sie sich zur exakt gleichen Uhrzeit an dasselbe Fenster setzte und auf die Totenprozession wartete. Dieses Mal ging das Licht nicht von den Fingern, sondern von der Handfläche der Toten aus und am Ende der Prozession erkannte sie auch sofort den verstümmelten Toten.
„Ciapé, paron, el vostro brazo.“ („Hier, nehmt euren Arm, mein Herr.“)
Der Tote nahm, ohne die Frau anzusehen, den Arm, heftete diesen wieder an seinen Körper und hob beide Arme. „Danke Gott dafür, dass du eine Katze auf dem Schoß hältst, ansonsten wäre mein Schicksal auch deines geworden.“ (Sie wäre also gestorben!)
Ein paar Jahre später …
Diese Geschichte war der Hausfrau jedoch keine Lehre gewesen: Ein paar Jahre später steckte sie wiederum den Kopf bei einer der Totenprozessionen aus dem Haus. Dieses Mal bat sie eine Frau darum ihre Lampe zu entzünden. Diese Tote tat nur ungern wie ihr geheißen. Ein kühler Lufthauch traf im selben Moment die Hausfrau, die ein Kribbeln im rechten Arm fühlte. Als sie an ihrem Arm herab sah, sah sie, dass ihr eigener Arm verschwunden war und fiel vor Schreck in Ohnmacht.
Dieses Mal ging sie nicht zum Priester, sondern zu einer alten Hexe um einen Rat einzuholen: „Nächstes Jahr, sobald die Prozession der Verstorbenen wieder an deinem Haus vorbei zieht, musst du dein Haupt mit einem schwarzen Tuch bedecken, eine schwarze Katze am Nacken festhalten und der Toten einen Teller mit fave dei morti* anbieten. Sprich gleichzeitig diese Worte:
Ciapé, brava parona, par el vostro incomodo. Dolséti fati da mi in cambio del mio brasso!“ (Nehmt, gute Frau, für eure Mühe. Diese Süßigkeiten habe ich selbst gebacken im Tausch gegen meinen Arm!)
Als nun die Nacht des 1. November nach langen 12 Monaten ohne Arm gekommen war, tat die Frau wie ihr geheißen und hielt die tote Frau, die ihren Arm wie eine Trophäe an ihrem Gürtel hängen hatte, an. Die Tote sah die Frau nicht an, nahm die „Totenbohnen“ und steckte sie gierig in ihre Tasche während sie in den dunklen Himmel starrte. Ein kühler Lufthauch traf die Hausfrau, die Katze fiel zu Boden und floh geschwind in eine Gasse, während die Frau ein Kribbeln spürte und ihren Arm wieder an ihrem Körper vorfand.
Nach diesem letzen Vorfall, blieb die Frau von nun an in der Nacht der Toten in ihr Haus verbarrikadiert und wagte es nicht ihren Kopf aus dem Fenster zu stecken. Die Fingernägel ihres so lange verschwundenen Arms blieben jedoch ihr Leben lang schwarz gefärbt in Erinnerung an ihr letzes Aufeinandertreffen mit den Toten.
*„Totenbohnen“ sind eine traditionelle Süßigkeit in Venedig, die anlässlich der Feiertage Allerheiligen und Allerseelen gebacken werden.